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18.06.2011 KLAVIERABEND –LUSINE KHACHATRYAN
 

Darmstädter Echo vom 20.06.2011:

Raserei genügt nicht

Musik: Pianistin Lusine Khachatryan hat in Darmstadt mehr zu bieten als Virtuosentum

DARMSTADT. Das Schlimme ist, dass Franz Liszt glaubte, Franz Schubert verstanden zu haben. Man musste demnach seiner Musik nur ein wenig nachhelfen, und so bastelte er aus dem „Erlkönig“-Lied ein rasendes Bravourstück – von Ekstase durchpulst, mit bebenden Tonwiederholungen und anderem Tinnef aufgerüstet.
Lusine Khachatryan wiederum hat Liszt wirklich verstanden, und so lässt sie als Gast der Chopin-Gesellschaft in Darmstadt der Power an dieser Stelle den Vortritt vor der Poesie. Das pianistische Zeug zur Virtuosin hat sie, wie auch die Wiedergabe von Liszts zehnter ungarischer Rhapsodie zeigt. Doch die 28 Jahre alte Armenierin kann noch viel mehr, und davon erzählt sie im Kennedyhaus am Klavier.
In Chopins Polonaise-Fantasie op. 61 lässt sie dazu erst einmal den Komponisten ausreden; nicht Taktstriche gliedern dieses Stück bei verständiger Interpretation, sondern Leidenschaften. In Khachatryans Spiel hat der Wechsel von Aufbegehren und Zerfallen menschliche Züge – bis hin zu gehämmerten Akkorden am Schluss oder einer zur Schmerzgrenze geführten Chromatik.
Die Freiheiten, die sich die Pianistin gerade bei Tempo-Variationen nimmt, hauchen auch fünf Chopin-Mazurken Atem ein. Wie am Schnürchen dürfen sie nicht ablaufen; daher ist es gut, dass Khachatryan etwa das Vertrackte, Stockende der cis-Moll-Mazurka hervorhebt.
Bei aller romantischen Einfühlung bewahrt sie eine klare Diktion, die später auch Beethovens „Sturm“-Sonate zum Erfolg führt. Gegen Ende des ersten Satzes bleibt die ehemalige Karlsruher Studentin arg lang auf dem Pedal stehen, im Ganzen treibt sie aber Arm in Arm mit dem Komponisten klassisches Ebenmaß wie unverbindliche Tonmalerei aus dem Sälchen, durchaus auch mal mit pianistischer Gewalt. Dem Gesang des Adagio dagegen verleiht Lusine Khachatryan ohne Aufwand Schönheit.
Im Vergleich dazu haben die meisten an diesem Abend vorgestellten Stücke ihres Landsmanns Arno Babadjanian (1921–1983) das gewisse Nichts. In den „Sechs Bildern“ mit ihrer expressiven Tonsprache darf die Künstlerin immerhin eines beweisen: dass sie nicht nur schnell und präzise spielen, sondern per Anschlag alle möglichen Klänge beschwören kann – von der Flöte bis zum Orchester.

Christian Knatz
20.06.2011

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