Darmstädter Echo vom 29. September 2012:
Das Gefühl, nackt zu spielen
Talentförderung – Wie der Klavierpädagoge Lev Natochenny jungen Talenten Hinhören und Hingabe näherbringt
Von 30 Bewerbern aus aller Welt wurden zehn junge Pianisten für den diesjährigen Meisterkurs der Chopin-Gesellschaft ausgewählt. Bereits der Auftakt im Kennedyhaus hielt für die Nachwuchsmusiker wie für die zahlreichen Zuschauer einige Überraschungen bereit. Für die niederländische Pianistin Susanne Hardick war die erste Unterrichtsstunde mit dem in Frankfurt lehrenden Lev Natochenny ein Sprung ins kalte Wasser, der sie Überwindung kostete, dafür aber eine umso belebendere Wirkung zeigte. Mitgebracht hatte die seit einem Jahr in Darmstadt beheimatete Pianistin den berühmten „Liebestraum“ von Franz Liszt. Mehrere Monate hat sie das virtuose Stück einstudiert. Doch damit, dass Natochenny sie auffordern würde, nicht die eingeübten Noten, sondern den Zwischenraum zwischen den Tönen zum Klingen zu bringen, hat sie nicht gerechnet. „Wenn Sie spielen, hört man den Anschlag, aber ich will hören, was nach dem Anschlag kommt“, erklärt Natochenny. Das Aufspüren der unsichtbaren Linie zwischen den Tönen ist keine leichte Aufgabe, wenn man sich zuvor ganz auf die Umsetzung des Notentextes konzentriert hat. Wieder und wieder lässt der Lehrer die Teilnehmerin die ersten beiden Töne des Stückes wiederholen. Bis der Übergang tatsächlich stimmt, brauchte es einige Versuche. Weich wie Butter müsse der Anschlag sein, dazu müssten vor allem die Handgelenke geschmeidig sein und die Ellenbogen nachgeben, verlangt er. In einer Stress-Situation vor Publikum aus der totalen Entspannung heraus zu spielen, ist für Susanne Hardick eine echte Herausforderung. Man müsse bereit sein, sich im entscheidenden Moment ganz der Musik hinzugeben, auch wenn man sich dabei nackt fühle, erklärt die Pianistin nach dem Unterricht. Auch wenn Natochenny stets auf humorvolle Weise mit leiser Stimme auf seine Schüler einwirkt, zeigt er sich unnachgiebig, wenn es um die musikalische Sache geht. Von den Kursteilnehmern fordert sein Unterrichtsstil ein Höchstmaß an Aufnahmebereitschaft und Flexibilität. Allerdings ist dem Pädagogen durchaus bewusst, welche Anstrengung es einen Musiker kostet, sich von falschen Angewohnheiten zu lösen. „Jede falsche Note ist im Gedächtnis einprogrammiert wie auf einem Computer. Nur dass man sie im Gehirn nicht so leicht löschen kann.“ Um einen Fehler zu überschreiben, sei es nötig, die richtige Note mindestens 50 Mal richtig zu spielen, meint Natochenny, der seinen Schülern stets ein äußerst langsames Übetempo empfiehlt. Doch auch Kursteilnehmer, die technisch bereits höchsten Ansprüchen genügen, wie die 1984 geborene Angela Kim aus Boston, kann Natochenny künstlerisch aus der Reserve locken. „Wie würden Sie dieses Stück instrumentieren?“, fragt er die Pianistin, nachdem sie die „Ricercar“ aus Bachs „Musikalischem Opfer“ mit Bravour vorgetragen hat. Seine Meisterschülerin muss eine Weile innehalten, bis sie sich für ein Trio aus Violine, Viola und Cello entscheidet. Noch plastischer werden die Klangfarben und Konturen der Musik, als Natochenny sie das Stück in einer imaginären Besetzung für Oboe, Klarinette und Fagott spielen lässt. Die einzelnen Stimmen am Klavier mitsingend, begleitet Natochenny die Pianistin auf eine inspirierende klangliche Entdeckungsreise.
Silvia Adler
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